BRAK, Mitteilung vom 19.09.2023
Der Bundesfinanzhof hat festgestellt, dass das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt ist, wenn während überwiegender Teile der mündlichen Verhandlung nur der Vorsitzende Richter des Senats zu sehen ist.
Findet eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz statt, so müssen die Kameraeinstellungen so gewählt werden, dass alle beteiligten Richter zu sehen sind. Ist das nicht der Fall, ist das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt und verletzt das Recht der Beteiligten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Dies hat jedenfalls der Bundesfinanzhof mit seinem Beschluss vom 30. Juni 2023 festgestellt (Az. V B 13/22).
Im zugrundeliegenden Verfahren fand die mündliche Verhandlung vor dem FG Münster per Videokonferenz statt. Dabei wurde nur eine einzelne Kamera eingesetzt, bei der für etwa zwei Drittel der Verhandlung nur der Vorsitzende Richter des Senats zu sehen gewesen ist, während die übrigen Richter – auch der jeweils aktuell sprechende Richter – nicht zu sehen waren.
Der Kläger legte nach erfolgloser Revisionseinlegung nun eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH ein. Sein Argument: es sei nicht möglich gewesen, das Verhalten der Richter zu beobachten und so einer finalen rechtlichen Analyse zu unterziehen. Er sei daher in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt.
Dem hat der BFH nun stattgegeben. Er stellte fest, dass hier das Gericht nicht vorschriftsgemäß besetzt war. Er führte aus, dass bei einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz für alle Beteiligten feststellbar sein müsse, ob die beteiligten Richter in der Lage seien, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Dazu müssten folglich alle Richter sichtbar sein. Dass dies nicht der Fall ist, wenn während eines Großteils der Verhandlung die Kamera nur auf den Vorsitzenden Richter gerichtet ist, liegt auf der Hand. Den absoluten Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung aus § 119 Nr. 1 FGO sah der BFH daher als gegeben an.
Gründe: Gesetzentwurf zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik
Bemerkenswert ist, dass sich der BFH in seinen Gründen nicht nur auf vergangene Rechtsprechung und bestehende Gesetze beruft, sondern den Blick in die Zukunft richtet: das Gericht nimmt maßgeblich Bezug auf den Entwurf des Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vom 26.05.2023. In dessen Gesetzesbegründung heißt es ausdrücklich, dass jeder Verfahrensbeteiligte und das Gericht die Möglichkeit haben muss, alle anderen Verfahrensbeteiligten und die Mitglieder des Gerichts zu jedem Zeitpunkt der Verhandlung sowohl visuell als auch akustisch wahrzunehmen (BR-Drucks 228/23, S. 49). Dies sieht der BFH offenbar als Bestätigung dafür, dass dieselben Maßstäbe schon jetzt bei der Frage angelegt werden müssen, ob ein in Videokonferenz verhandelndes Gericht vorschriftsmäßig besetzt war.
Kein disponibles Recht, keine Rügepräklusion
Übrigens tat es der Sache des Klägers keinen Abbruch, dass er diese Videoeinstellungen erst im Nichtzulassungsverfahren rügte: bei der vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts handele es sich nach Ansicht des BFH um eine Garantie, deren Einhaltung im öffentlichen Interesse liege und deren Risiko nicht auf die Parteien abgewälzt werden dürfe. Sie sei nicht von den Parteien abdingbar, sodass eine Rügepräklusion nach § 295 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen gewesen sei.
Dies dürfte sicherlich nicht die letzte (höchstgerichtliche) Entscheidung zum Themenschwerpunkt gewesen sein, wie die jeweils einschlägigen Verfahrensvorschriften in einer Videoverhandlung umgesetzt werden können und müssen. Diese Entscheidung ist aber sicher wegweisend, da sie mit der vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts und dem Recht auf gesetzlichen Richter rechtsstaatliche Grundsätze thematisiert, die für alle Gerichtsbarkeiten gelten und einen zentralen Baustein unseres rechtsstaatlichen Verfahrens darstellen.
Quelle: BRAK
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