EuGH, Pressemitteilung vom 14.09.2023 zum Urteil C-83/22 vom 14.09.2023
Rücktritt von Pauschalreisen bei Eintritt außergewöhnlicher Umstände: Ein nationales Gericht darf den Reisenden unter bestimmten Voraussetzungen über sein Rücktrittsrecht ohne Gebühren informieren.
Im Oktober 2009 schloss ein Reisender mit dem Reiseveranstalter Tuk Tuk Travel einen Vertrag über eine Pauschalreise für zwei Personen nach Vietnam und Kambodscha: Die Abreise von Madrid (Spanien) sollte am 8. März 2020 stattfinden, die Rückkehr war am 24. März 2020 geplant. Der Reisende zahlte fast die Hälfte des Gesamtreisepreises. Der Vertrag enthielt Informationen über die Möglichkeit eines Rücktritts vor dem Abreisedatum gegen Gebühren. Dagegen war die Möglichkeit eines Rücktritts ohne Gebühren aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, die am Bestimmungsort auftreten, wie sie in der Pauschalreiserichtlinie1 vorgesehen ist, im Vertrag nicht genannt.
Am 12. Februar 2020 setzte der Reisende angesichts der Ausbreitung des Coronavirus in Asien Tuk Tuk Travel von seiner Entscheidung, vom Vertrag zurückzutreten, in Kenntnis und verlangte von dem Reiseveranstalter die Erstattung aller ihm zustehenden Beträge. Der Reisende erhob Klage, nachdem der Reiseveranstalter ihm angekündigt hatte, dass ihm nach Abzug der Stornierungskosten nur ein kleiner Teil des gezahlten Betrags erstattet werde. Er trägt vor, er sei fast einen Monat vor dem geplanten Abreisedatum vom Vertrag zurückgetreten, und macht das Vorliegen höherer Gewalt geltend: die Ausbreitung des Coronavirus in Asien. Der Reisende, der nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten ist, beantragt nur eine teilweise Erstattung des gezahlten Betrags, da er davon ausgeht, dass ein Viertel dieses Betrags den Tuk Tuk Travel entstandenen Verwaltungskosten entspreche.
Das mit der Rechtssache befasste spanische Gericht hat den Gerichtshof um Auslegung der Pauschalreiserichtlinie gebeten. Es fragt sich u. a., ob dem Reisenden nach der Richtlinie von Amts wegen die Erstattung aller getätigten Zahlungen zugesprochen werden darf, wenn er aufgrund außergewöhnlicher Umstände vom Vertrag zurückgetreten ist. Das spanische Gericht stellt fest, dass diese Möglichkeit gegen grundlegende Prinzipien des spanischen Verfahrensrechts verstieße.
In seinem heutigen Urteil betont der Gerichtshof zunächst, dass ein Reiseveranstalter den Reisenden nach der Richtlinie u. a. über sein Rücktrittsrecht zu informieren hat.
Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass es aufgrund der Bedeutung des durch die Richtlinie gewährten Rücktrittsrechts (sowie des daraus folgenden Anspruchs auf volle Erstattung aller getätigten Zahlungen) für seinen wirksamen Schutz erforderlich ist, dass das nationale Gericht einen Verstoß dagegen von Amts wegen aufgreifen darf, insbesondere wenn der Reisende sein Recht nicht geltend macht, weil er nicht weiß, dass es besteht. Diese Prüfung von Amts wegen unterliegt jedoch bestimmten Voraussetzungen2.
Diese Voraussetzungen scheinen im vorliegenden Fall vorbehaltlich der Prüfung durch das spanische Gericht erfüllt zu sein, zumal der Gerichtshof bereits allgemein festgestellt hat, dass der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände den Ausbruch einer weltweiten gesundheitlichen Notlage umfassen kann, und die Rechtssache vor dem spanischen Gericht die Erstattung der vom Reisenden getätigten Zahlungen nach seiner Entscheidung, aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus vom Vertrag zurückzutreten, betrifft3. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Reisende nicht wusste, dass sein Rücktrittsrecht besteht, da Tuk Tuk Travel ihn hierüber nicht informiert hat. Das spanische Gericht wäre demnach verpflichtet, das Rücktrittsrecht von Amts wegen zu prüfen. Es hat somit insbesondere zum einen den Reisenden über dieses Recht zu informieren und ihm zum anderen die Möglichkeit einzuräumen, es im laufenden Gerichtsverfahren geltend zu machen.
Die Prüfung von Amts wegen verlangt dagegen vom nationalen Gericht nicht, dass es den betreffenden Pauschalreisevertrag von Amts wegen ohne Gebühren beendet und dem Reisenden einen Anspruch auf volle Erstattung aller getätigten Zahlungen gewährt. Der Reisende hat zu entscheiden, ob er dieses Recht bei dem Gericht geltend machen möchte.
Fußnoten
1 Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1).
2 Diese Voraussetzungen sind folgende: Eine der Parteien des betreffenden Pauschalreisevertrags muss ein Gerichtsverfahren bei dem nationalen Gericht eingeleitet haben und dieses Verfahren muss diesen Vertrag zum Gegenstand haben; das Rücktrittsrecht muss mit dem Streitgegenstand zusammenhängen, wie dieser von den Parteien definiert ist; das nationale Gericht muss über alle erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügen, um zu prüfen, ob das Rücktrittsrecht von dem betreffenden Reisenden geltend gemacht werden könnte; dieser darf dem nationalen Gericht nicht ausdrücklich mitgeteilt haben, dass er der Anwendung der Richtlinie hinsichtlich dieses Rechts widerspreche.
3 Vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV, C-407/21 (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 94/23).
Quelle: EuGH
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