EU-Kommission, Pressemitteilung vom 08.01.2013
Nach fünf Jahren Wirtschaftskrise und einem erneuten Konjunktureinbruch im Jahr 2012 erreicht die Arbeitslosigkeit Werte, die es seit rund 20 Jahren nicht mehr gegeben hat, die Einkommen der Haushalte sind geschrumpft und Armuts- und Ausgrenzungsrisiko steigen, besonders in den Mitgliedstaaten im Süden und Osten Europas – dies ist die Bilanz der Ausgabe 2012 des Berichts "Employment and Social Developments in Europe Review" (Überprüfung der Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales in Europa). Die Auswirkungen der Krise auf die soziale Lage machen sich nun deutlicher bemerkbar, da sich die anfängliche Abfederungswirkung niedrigerer Steuereinnahmen und höherer Aufwendungen für Sozialleistungen (so genannte "automatische Stabilisatoren") abgeschwächt hat. Es tut sich eine neue Schere auf zwischen Ländern, die in einer Abwärtsspirale aus sinkender Produktivität, rasant steigender Arbeitslosigkeit und schrumpfendem verfügbarem Einkommen der Haushalte gefangen zu sein scheinen, und Ländern, die der Krise bisher gut standgehalten oder wenigstens eine gewisse Widerstandsfähigkeit gezeigt haben. Letztere weisen in der Regel effizientere Arbeitsmärkte und stabilere Sozialfürsorgesysteme auf.
"Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der sich verschlechternden sozialen Lage war 2012 ein weiteres miserables Jahr für Europa", so der EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration László Andor. "Unsere Analyse hat jedoch ergeben, dass die Mitgliedstaaten mithilfe geeigneter arbeitsmarktpolitischer Reformen und einer besseren Ausgestaltung der Sozialfürsorgesysteme wirtschaftlichen Erschütterungen besser standhalten und die Krise schneller überwinden können. Es ist zudem unwahrscheinlich, dass sich die sozioökonomische Lage in Europa 2013 wesentlich verbessern wird, es sei denn, es gelingt, die Überwindung der Eurokrise glaubwürdig weiter voranzutreiben, die Ressourcen für dringend benötigte Investitionen zu schaffen, u. a. im Bereich Kompetenzaufbau, Beschäftigungsfähigkeit und soziale Integration, und die Finanzwirtschaft in den Dienst der Realwirtschaft zu stellen."
Im Euroraum geht die Schere weiter auseinander
Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in der EU liegt nun bei rund 11 %. Der Bericht zeigt eine neue Form des Auseinanderdriftens auf – am eklatantesten sind die Unterschiede zwischen den nördlichen und den südlichen Ländern des Euroraums. Im Jahr 2000 lag die Differenz bei der Arbeitslosenquote zwischen beiden Gebieten bei 3,5 Punkten, 2007 sank sie auf Null, danach wuchs sie jedoch rasch an und erreichte 7,5 Punkte im Jahr 2011. Auch außerhalb des Euroraums vergrößern sich die Diskrepanzen, doch sie halten sich dort stärker in Grenzen. Diese besorgniserregende Entwicklung macht deutlich, dass dringend ein wirksameres System zur makroökonomischen Stabilisierung benötigt wird; dies kommt auch in der laufenden Debatte über eine vertiefte, echte Wirtschafts- und Währungsunion zum Ausdruck. Ein weiteres Ergebnis der Analyse im Bericht ist, dass sich Arbeitslosen in denjenigen Mitgliedstaaten, die tiefgreifende Reformen zur Dynamisierung ihres Arbeitsmarktes durchgesetzt haben, nach wie vor viel bessere Chancen bieten, eine neue Stelle zu finden, und zwar auch in der Krise. Derartige Reformen hat die Kommission in ihrem Beschäftigungspaket vom April 2012 und im Jahreswachstumsbericht 2013 gefordert; ausführlich thematisiert werden sie im Rahmen des Europäischen Semesters 2013 und den damit einhergehenden länderspezifischen Empfehlungen.
Schrumpfende Haushaltseinkommen, Gefahr langfristiger Ausgrenzung
Die Gefahr, in die Armut abzurutschen, bzw. die Chancen, wieder aus der Armutsfalle herauszukommen, sind in den einzelnen Mitgliedstaaten höchst unterschiedlich ausgeprägt. Hierbei sind bestimmte Bevölkerungsgruppen stärker gefährdet als andere: So sind junge Menschen, arbeitslose Frauen und alleinerziehende Mütter besonders von dauerhafter Armut bedroht. Mangels einer spürbaren wirtschaftlichen Erholung wurden die Einkommen der Haushalte in den meisten Mitgliedstaaten in Mitleidenschaft gezogen, und eine langfristige Ausgrenzung droht schneller. Das Bruttorealeinkommen, das den Haushalten zur Verfügung steht, ist von 2009 bis 2011 in zwei Dritteln der EU-Staaten, für die Daten vorliegen, geschrumpft. Die stärksten Rückgänge waren hierbei in Griechenland (17 %), Spanien (8 %), Zypern (7 %) sowie Estland und Irland (5 %) zu verzeichnen. Diese Entwicklung steht in krassem Gegensatz zu der Lage in den nordischen Ländern, Deutschland, Polen und Frankreich, wo aufgrund der Sozialfürsorgesysteme und der widerstandsfähigeren Arbeitsmärkte auch während der Krise das Gesamteinkommen weiter steigen konnte. Durch die anhaltende Krise wächst aber überall die Gefahr einer dauerhaften Ausgrenzung.
Um zu verhindern, dass sich die Zunahme von Armut und dauerhafter Ausgrenzung verfestigt, müssen die Maßnahmen speziell auf die Verhältnisse in den einzelnen Ländern sowie auf die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen abgestimmt werden. Anfang 2013 wird die Kommission ein Maßnahmenpaket zu sozialen Investitionen auflegen; damit will sie den Mitgliedstaaten dabei helfen, angesichts des zunehmenden Drucks, der auf privaten und öffentlichen Ressourcen lastet, geeignete, nachhaltige und wirksame sozialpolitische Maßnahmen durchzuführen, mit denen das Humankapital und der soziale Zusammenhalt gestärkt werden sollen.
Ausgestaltung von Sozialfürsorge- und Steuersystem entscheidend
Bei der Armutsbekämpfung ist die Ausgestaltung der einzelstaatlichen Sozialfürsorgesysteme ebenso wichtig wie ihr Ausmaß – so führen vergleichbare Aufwendungen für Sozialleistungen in den einzelnen Mitgliedstaaten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen bei der Eindämmung der Armut. Steuererleichterungen können stark auf die Beschäftigungssituation einwirken, z. B. durch bestimmte Maßnahmen wie Kinderbetreuungsangebote, die einen starken Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung insbesondere für Frauen bieten. Ebenso entscheidend ist die Gestaltung der Einnahmenseite des Wohlfahrtsstaates. So wirkt eine Verlagerung der Steuerlast vom Faktor Arbeit auf andere Faktoren wie CO2-Emissionen oder Verbrauch und Eigentum, wie sie im Beschäftigungspaket und den Länderspezifischen Empfehlungen 2012 vorgeschlagen wird, beschäftigungsfördernd. Bezüglich der Verteilung sind bei der Umgestaltung der Besteuerung jedoch mit Umsicht alternative Besteuerungsgrundlagen zu eruieren, die die Mindereinnahmen infolge der niedrigeren Besteuerung des Faktors Arbeit auffangen. Die Analyse hat ergeben, dass es vom Standpunkt einer integrierten Beschäftigungs- und Sozialpolitik aus keine optimale Umverteilung der Steuerlast gibt, dass aber eine zweckdienliche Ausgestaltung des Sozialwesens bestimmte Verlagerungen der steuerlichen Belastung wünschenswerter erscheinen lässt.
Löhne sind nicht allein ein Kostenfaktor, sondern stellen das Einkommen dar, mit dem die Menschen Waren und Dienstleistungen kaufen können. So ließe sich zwar mit Lohnkürzungen möglicherweise die Wettbewerbsfähigkeit steigern, doch würde gleichzeitig die Binnennachfrage nach der Produktion der Unternehmen geschwächt, was zu Arbeitsplatzverlusten führen kann. Der den Arbeitskräften zufallende Anteil des von der Wirtschaft generierten Gesamteinkommens ist in Europa im vergangenen Jahrzehnt zurückgegangen; dabei hat sich die Schere zwischen gut und gering bezahlten Tätigkeiten weiter geöffnet. Bei den Gehältern besteht nach wie vor ein großer Unterschied zwischen Männern und Frauen (2010 betrug die Differenz im EU-Durchschnitt 16,4 %); dabei nimmt die Diskrepanz mit dem Alter der Arbeitskraft zu. Die Ergebnisse der Analyse der Mindestlöhne zeigen, dass Geringqualifizierte in Ländern mit höheren Mindestlöhnen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt nicht eingebüßt haben, sondern dass ihre Beschäftigungsquote in diesen Ländern sogar tendenziell höher ist. Mindestlöhne können auch dazu führen, dass das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern geringer ausfällt. Daher ist im Beschäftigungspaket 2012 verankert, dass mit strukturellen Arbeitsmarktreformen menschenwürdige und nachhaltige Löhne gewährleistet und Niedriglohnfallen umgangen werden sollten, u. a. durch Festsetzung angemessener Mindestlöhne.
Kompetenzen
Arbeitskräfte müssen die für eine bestimmte Stelle benötigten Fähigkeiten mitbringen. Gemäß dem Bericht besteht in einigen Ländern, insbesondere im südlichen Teil Europas, ein Missverhältnis zwischen Kompetenzen und Stellenanforderungen bzw. dieses Verhältnis hat sich verschlechtert. Besonders stark betroffen ist die große und weiterhin wachsende Gruppe der jungen Menschen, die weder eine Arbeit haben noch eine schulische oder berufliche Ausbildung absolvieren (NEET). Abhilfe schaffen sollen hier die geplanten Maßnahmen des Pakets zur Jugendbeschäftigung (siehe IP/12/1311 und MEMO/12/938), die darauf abzielen, dass alle arbeitslosen jungen Menschen Zugang zu einer schulischen oder beruflichen Weiterbildung bzw. einem gewinnbringenden Praktikum oder Ausbildungsplatz bekommen, was ihre Chancen erhöht, einen Arbeitsplatz zu finden.
Um das Missverhältnis bei den Kompetenzen abzumildern, müssen die Länder ihre Investitionen in die berufliche und schulische Bildung sowie ihre Aufwendungen für aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen optimieren und die Schaffung hochqualifizierter Stellen in Wachstumsbranchen wie der Umweltindustrie und -technologie, den Informations- und Kommunikationstechnologien und dem Gesundheitssektor fördern. Wo Arbeitskräfte mit den jeweiligen Kompetenzen benötigt werden, lässt sich am EU-Kompetenzpanorama ablesen (siehe IP/12/1329), das vor kurzem gestartet wurde. Wenn eine bestimmte Qualifikation im eigenen Land nicht gefragt ist, gibt es häufig entsprechende Stellenangebote in einem anderen Mitgliedstaat, was jedoch für die Betroffenen möglicherweise nur schwer herauszufinden ist. Die Europäische Kommission hat kürzlich einen Beschluss zur Modernisierung und Verbesserung des EU-weiten Beschäftigungsnetzes EURES angenommen (siehe IP/12/1262, MEMO/12/896, MEMO/12/897). Hierdurch soll es für Arbeitsuchende einfacher werden, Kontakt zu Arbeitgebern aufzunehmen, die Arbeitskräfte mit bestimmten Qualifikationen in allen Mitgliedstaaten suchen; es soll außerdem hervorgehoben werden, in welchen Branchen und Berufen Arbeitskräftemangel herrscht, und es sollen spezielle Mobilitätsprogramme für junge Menschen unterstützt werden.
Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage der EU-Kommission.
Quelle: EU-Kommission