Aktuelles

LG München II verkennt Unterschied zwischen Berufung und Revision

BRAK, Mitteilung vom 28.09.2023 zum Beschluss VIII ZR 20/23 des BGH vom 08.08.2023

Zwar ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellung der ersten Instanz gebunden, bei Zweifeln muss es aber neue Beweise erheben.

Das Berufungsgericht darf es sich nicht zu leicht machen und die erste Instanz – wie die Revisionsinstanz – nur auf Rechtsfehler hin überprüfen. Das geht aus einem aktuellen Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) hervor. Zwar sind nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) grundsätzlich „die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen“ zugrundezulegen. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Entsprechende Zweifel könnten sich auch aus einer anderen Bewertung der erstinstanzlichen Beweisaufnahme und -würdigung ergeben (Beschluss vom 08.08.2023, Az. VIII ZR 20/23).

LG München II: Subjektive Zweifel sollen nicht ausreichen

Eine Vermieterin hatte ihren Mietern wegen Eigenbedarfs gekündigt und wollte nun vor Gericht die Räumung durchsetzen. Die Mieter hatten jedoch Zweifel daran, ob dieser Grund nicht vorgeschoben sei. Denn vor der Kündigung hatte die Vermieterin noch geäußert, sie wolle die Immobilie verkaufen. Zu diesem Zweck sollten Besichtigungen stattfinden, was die Mieter jedoch verweigerten. Erst danach hieß es, sie wolle nun selbst mit ihren zwei Söhnen in das Haus einziehen. In der ersten Instanz bekam sie Recht, die Mieter wurden auf Räumung verurteilt. Dagegen gingen sie in Berufung und trugen u. a. vor, dass sie aufgrund der Beweisaufnahme Zweifel an der Schlussfolgerung des Gerichts hätten, es handele sich wirklich um Eigenbedarf. Hierzu verwiesen sie insbesondere auf mehrfache Widersprüche der Zeugenaussagen von Vermieterin und Sohn.

Das Landgericht (LG) München jedoch berücksichtigte dieses Vorbringen nicht und führte keine neue Beweisaufnahme durch. Schließlich sei es grundsätzlich an die Beweiswürdigung des Amtsgerichts gebunden. Zweifel an deren Feststellungen bestünden nicht, insbesondere reichten dafür bloß subjektive Zweifel nicht aus. Das Gericht monierte, dass die Beklagten hier lediglich „ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Amtsgerichts“ setzten. Die Revision ließ es nicht zu. Die dagegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH hatte nun Erfolg.

BGH: Auch unterschiedliche Interpretationsmöglichkeit kann zu Zweifeln führen

Die Mieter seien in ihrem Recht auf rechtliches Gehör verletzt worden. Das Berufungsgericht habe den Prüfungsmaßstab des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und seine daraus folgende Prüfungskompetenz und -pflicht grundlegend verkannt. Schließlich hatte es nicht nur die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz, sondern auch deren Würdigung ungefragt übernommen. Nach dem Gesetz wäre es aber erforderlich gewesen, sich mit den Einwänden der Mieter auseinanderzusetzen und daraufhin eine eigene Beweiswürdigung der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung vorzunehmen.

Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung sei schließlich nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Denn bei der Berufungsinstanz handelt es sich auch nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer „fehlerfreien und überzeugenden“ und damit „richtigen“ Entscheidung des Einzelfalles bestehe.

Dabei gelte: Auch verfahrensfehlerfrei getroffene Feststellungen seien für das Berufungsgericht nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Dabei könnten sich entsprechende Zweifel auch aus der Möglichkeit ergeben, dass das Berufungsgericht das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz. Bestehe aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sei es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet.

Diesen Prüfungsmaßstab habe das Berufungsgericht grundlegend verkannt. Denn es habe die vorgebrachten Einwendungen der Mieter nur unter dem Ansatz geprüft, ob dem Amtsgericht hierbei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ergebe sich aus der Erläuterung des – zu eingeschränkten – Prüfungsmaßstabs sowie aus dem Satz, die Beklagten hätten „lediglich ihre Beweiswürdigung anstelle derjenigen des Amtsgerichts“ gesetzt.

Der BGH hat daraufhin das Urteil des LG München II aufgehoben und von seiner Möglichkeit Gebrauch gemacht, es an eine andere Kammer des LG zurückzuverweisen. Diese wird nun zu prüfen haben, ob sich unter Berücksichtigung der Einwendungen der Beklagten Zweifel an den erstinstanzlichen Feststellungen ergeben. Wenn ja, muss sie eine erneute Beweisaufnahme durchführen.

Quelle: BRAK

Dieser Artikel erschien auf https://www.datev-magazin.de/?p=108793

Inhalt