Schlussanträge des Generalanwalts in den verbundenen Rechtssachen C-274/11 und C-295/11
EuGH, Pressemitteilung vom 11.12.2012
Generalanwalt Bot schlägt dem Gerichtshof vor, die Klagen Spaniens und Italiens gegen den Beschluss des Rates über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des einheitlichen Patents abzuweisen.
Eine Verstärkte Zusammenarbeit ist darauf ausgerichtet, die Verwirklichung der Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken. Der Beschluss über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit wird vom Rat als letztes Mittel erlassen, wenn dieser feststellt, dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden können (Art. 20 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV)).
Der Beschluss wird auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Parlaments vom Rat erlassen.
Der Rat hat mit einem im Jahr 2011 erlassenen Beschluss (2011/167/EU des Rates vom 10.11.2011 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes, ABl. L 76, S. 53) 25 Mitgliedstaaten (von den 27 Mitgliedstaaten der Union) zu einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes ermächtigt; Spanien und Italien hatten eine Teilnahme daran abgelehnt. Diese Zusammenarbeit strebt die Einführung zentralisierter Zulassungs-, Koordinierungs- und Kontrollregelungen auf Unionsebene an.
Spanien und Italien begehren die Nichtigerklärung dieses Beschlusses des Rates durch den Gerichtshof und tragen mehrere Gründe für seine Ungültigkeit vor.
In seinen Schlussanträgen vom 11.12.2012 geht Generalanwalt Yves Bot auf die von diesen beiden Mitgliedstaaten vorgetragenen Argumente ein.
Nachdem er erläutert hat, dass der Gerichtshof zum ersten Mal aufgerufen sei, die Rechtmäßigkeit des Beschlusses über eine solche Zusammenarbeit zu prüfen, weist der Generalanwalt darauf hin, dass der Gerichtshof nach dem Grundsatz der Gewaltentrennung nur eine beschränkte Prüfung der gesetzgeberischen Maßnahmen des Rates vornehmen könne. Es sei nämlich Sache der beteiligten Organe, die Wirkungen der Verstärkten Zusammenarbeit anhand zahlreicher Punkte zu beurteilen, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen in Rede stehenden Interessen herzustellen und über politische Fragen, die in die eigene Zuständigkeit des jeweiligen Organs fielen, zu entscheiden. Der Gerichtshof habe sich daher auf die Prüfung zu beschränken, ob der Rat die Wahlfreiheit nicht offensichtlich fehlerhaft oder ermessensmissbräuchlich ausgeübt habe oder ob er nicht offensichtlich die Grenzen seines Ermessens überschritten habe.
Der Generalanwalt wendet sich zunächst dem Argument zu, der Rat sei nicht befugt, den Beschluss zu erlassen, da die Schaffung eines einheitlichen Patents in die ausschließliche Zuständigkeit der Union falle, nämlich unter die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln. Die Mitgliedstaaten könnten eine Verstärkte Zusammenarbeit aber nur in den Bereichen der nicht ausschließlichen Zuständigkeit der Union ausüben (Art. 20 Abs. 1 EUV). Der Generalanwalt ist der Meinung, dass der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) eine abschließende Liste mit den Bereichen enthalte, die zur ausschließlichen Zuständigkeit der Union gehörten. Außerdem gehöre die Schaffung eines europäischen Rechtstitels für geistiges Eigentum zum Binnenmarkt. Es treffe zwar zu, dass die Rechte, die sich aus einem Patent ergäben, den Handel und die Wettbewerbsverhältnisse im Binnenmarkt beeinträchtigen könnten, jedoch genüge diese Feststellung nicht, um daraus einen Rechtstitel zu machen, der zu den Wettbewerbsregeln gehöre. Daher biete der AEUV im Rahmen der Verwirklichung und des Funktionierens des Binnenmarkts, eines Bereichs, der in die von der Union mit den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeit falle, eine geeignete Rechtsgrundlage zur Schaffung von Rechtstiteln im Bereich des geistigen Eigentums.
Dann prüft der Generalanwalt den Klagegrund eines angeblichen Ermessensmissbrauchs des Rates. Er weist darauf hin, dass eine Verstärkte Zusammenarbeit darauf ausgerichtet sei, die Verwirklichung der Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken. Die Gründe für die Einführung eines solchen Mechanismus für das einheitliche Patent seien die zunehmende Vielfalt innerhalb der Mitgliedstaaten sowie ihre besonderen Interessen und Bedürfnisse gewesen. Folglich habe der Rat dadurch, dass er zuerst festgestellt habe, dass in Bezug auf die Sprachenregelung des einheitlichen Patents keine Einstimmigkeit vorliege, und er zweitens entschieden habe, dieser Blockierung durch Einführung einer Verstärkten Zusammenarbeit abzuhelfen, nur auf ein ihm nach den Verträgen zur Verfügung stehendes Instrument zurückgegriffen.
Zu einem angeblichen Verstoß gegen das Gerichtssystem der Union führt der Generalanwalt aus, dass der Gerichtshof mit den beiden Nichtigkeitsklagen aufgerufen sei, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Gültigkeit der Verstärkten Zusammenarbeit beachtet worden seien. Die Schaffung eines eigenen Gerichtssystems für einheitliche Patente (in seinem Gutachten 1/09 vom 08.03.2011 hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Entwurf des Übereinkommens zur Schaffung eines Gerichts für europäische Patente und Gemeinschaftspatente nicht mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar ist, vgl. auch Pressemitteilung 17/2011) gehöre nicht zu den Voraussetzungen, die nach den Verträgen für die Umsetzung einer Verstärkten Zusammenarbeit erforderlich seien. Die Ermächtigung, die der Rat für die Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit erteile, sei nur die Prämisse für den Erlass weiterer Rechtsetzungsakte, die diese Zusammenarbeit konkret umsetzen müssten.
Der Generalanwalt erläutert, dass die Zusammenarbeit als letztes Mittel herangezogen werden müsse, wenn die angestrebten Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden könnten. Er stellt fest, dass weder die Bedingung "letztes Mittel" noch der Begriff "vertretbarer Zeitraum" in den Verträgen definiert worden seien. Das "letzte Mittel" bedeute nicht zwangsläufig die Feststellung der Ablehnung eines Gesetzesvorschlags, sondern vielmehr die Feststellung, dass eine echte Blockierung bestehe, die auf allen Stufen des Gesetzgebungsverfahrens eintreten könne und die bestätige, dass es nicht möglich sei, einen Kompromiss zu erzielen. Die Verstärkte Zusammenarbeit wäre somit das als letztes Mittel verwendete Instrument, wenn sich herausstelle, dass im Wege des üblichen Gesetzgebungsverfahrens kein Kompromiss gefunden werden könne. Der Rat, der die näheren Umstände des Gesetzgebungsverfahrens, den Inhalt der geführten Debatten und die ausweglosen Situationen kenne, könne weiter am besten beurteilen, ob es möglich sei, dass am Ende eine Übereinkunft bei ihm erzielt werde. Folglich müsse sich der Gerichtshof darauf beschränken, zu kontrollieren, ob der Rat sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte untersucht habe. Nach Ansicht des Generalanwalts hat der Rat im vorliegenden Fall keinen offensichtlichen Ermessensfehler begangen, da es nach jahrelangen erfolglosen Erörterungen nicht möglich gewesen sei, eine Einstimmigkeit zu erreichen, und zu einer Handlung unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten zu gelangen. Infolgedessen meint der Generalanwalt, dass der Klagegrund des Verstoßes gegen die Voraussetzung des letzten Mittels unbegründet sei. (Die Kommission hat einen ersten Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Gemeinschaftspatent im Jahr 2000 vorgelegt. Der Rat hat die Debatte im Jahr 2001 aufgenommen und bis zum Jahr 2004 fortgesetzt und sich dabei insbesondere mit der Sprachenregelung befasst, ohne jedoch zu einem Einvernehmen zu gelangen. Die Diskussionen wurden 2008 wieder aufgenommen und ein revidierter Vorschlag für eine Verordnung vorgelegt. Die Kommission hat im Jahr 2010 einen Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Vorschriften betreffend die Übersetzung erlassen, aber unüberwindbare Schwierigkeiten habe eine einmütige Zustimmung unmöglich gemacht.)
Der Generalanwalt äußert sich danach zu dem Vorbringen zur Beeinträchtigung des Binnenmarkts und des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, zur Behinderung und Diskriminierung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten und zu behaupteten Verzerrungen des Wettbewerbs. Er weist darauf hin, dass der Beschluss über die Ermächtigung, eine Verstärkte Zusammenarbeit einzuführen, den verfahrensrechtlichen Rahmen definiere, innerhalb dessen im Anschluss weitere Rechtsakte erlassen würden, um diese Zusammenarbeit konkret umzusetzen. Die gerichtliche Kontrolle des Beschlusses über die Ermächtigung könne also nicht mit der Kontrolle der Rechtsakte, die im Anschluss erlassen würden, vermengt werden. Der Rat habe in dem Beschluss zwar tatsächlich angesprochen, was die Sprachenregelung für das einheitliche Patent sein könnte, diese Frage sei aber keine entscheidende Bedingung, die die Gültigkeit des Beschlusses über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit bestimme. Sie müsste später behandelt werden und Gegenstand eines gesonderten Rechtsakts sein, der von den teilnehmenden Mitgliedstaaten einstimmig erlassen werde. Der Gerichtshof könnte dann im Rahmen einer eventuellen späteren Klage eine gerichtliche Kontrolle dieses Rechtsakts vornehmen. Der Generalanwalt meint, dass die Beurteilung des Rates demnach nicht offensichtlich fehlerhaft sei. Er ist im Gegenteil der Auffassung, dass ein Mechanismus, der dazu bestimmt sei, ein einheitliches Patent zu schaffen, das zu einem einheitlichen Schutz im Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaaten führe, zur harmonischen Entwicklung der gesamten Union beitrage, indem die bestehenden Unterschiede zwischen diesen Mitgliedstaaten reduziert würden. Im Übrigen könnten alle Wirtschaftsbeteiligten in den Genuss eines solchen Patents kommen, da der Herkunftsort des Antragstellers eines einheitlichen Patents für dessen Erlangung gleichgültig sei.
Der Generalanwalt ist schließlich in Bezug auf die behauptete Verletzung der Verpflichtung, die Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten der nicht an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten zu achten (nach Ansicht der spanischen Regierung, die sich auf den Vorschlag für eine Verordnung zur Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit stützt, verpflichtet die geplante Sprachenregelung den Mitgliedstaat, der nicht daran teilnehme, auf die Übersetzung der Patentbroschüre in seine Sprache zu verzichten, da eine solche Übersetzung keine Rechtswirkungen in diesem Staat erzeugen könne), der Auffassung, dass wiederum die Frage dieser Sprachenregelung keine Bedingung sei, die die Gültigkeit des Beschlusses über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit bestimme.
Folglich schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, alle von Spanien und Italien vorgetragenen Klagegründe zurückzuweisen und somit beide Klagen abzuweisen.
Quelle: EuGH